kruecken webEin-Kina Behandlung

Als wir vor dem Krankenhauseingang stehen, schlägt das Herz bis in den Hals. Ich finde, es sieht hübsch aus. Die Gemäuer sind wie ein alter Baum, der viel gesehen hat und tausende von Geschichten erzählen kann. Die Rinde ist alt und ab und zu fehlt ein Stück oder man sieht eine Narbe, aber das Holz ist von Regen und Wind umweht und gepflegt. Ein Unikat.

 

Klaus sieht mich an, die Mundwinkel sind tief nach unten gezogen: „Am besten, ich erkläre dir, wie der normale Weg eines Kranken durch das Krankenhaus funktioniert. Also, hier ist der Wartebereich, viel zu klein natürlich. Wir haben hier pro Jahr ungefähr 55.000 ambulante Patienten. Stell dir das nur vor, mit dem einen Bänkchen kommt man hier nicht weit. Dort geht’s rein.“ Die Menschen, die an der Tür stehen, sehen uns an und weichen zur Seite.
An einem kleinen Tisch, in einem kleinen offenen Raum, umringt von Menschen, sitzt eine Mutter mit einem Baby. Ihr gegenüber – eine Frau in weißer Tracht. Klaus grüßt nicht, die Schwester schaut kurz hoch und arbeitet weiter. Ihr Blick streift mich und wir lächeln uns kurz an.
„Also, wenn ein Patient kommt, bezahlt er erst einmal zwei Kina – ein Kina entspricht 25 Cent. Hier gibt es natürlich keine Krankenversicherung im Land und die Gesundheitsversorgung ist bis auf Impfungen und Verhütungsmittel nicht umsonst. Aber das ist auch gut so, gute Arbeit und guter Service soll auch honoriert werden. Im Gegensatz zu den anderen Kliniken sind die kirchlichen aber noch sehr billig. Die paar Kina, die hier für eine Behandlung inklusive allem, Operation, Medikamente, Labor, bezahlt werden, sind eigentlich kein Problem, das können die Menschen erwirtschaften, die sind nicht arm hier.“
An Indonesien erinnert, frage ich schnell: „Und wenn einer nicht bezahlen kann, wird er trotzdem behandelt?“ – „Natürlich. Notfälle behandeln wir immer. Aber wir haben Listen voll von Patienten, die einfach abgehauen sind ohne zu bezahlen.“ Seine Stimme klingt traurig.

Ich wundere mich innerlich noch über den Satz, dass die Menschen hier nicht arm seien, und hänge ihm nach. Wenn ich mir die Menschen in ihren zerlöcherten Kleidern ansehe, die Füße barfuß mit Sohlen wie Leder, glaube ich das erst einmal nicht. Außerdem müsste dann ja sofort die Frage folgen, was ich dann ja wohl hier mache. Nicht jetzt.

Klaus erklärt weiter: „Der Kranke wird dann von den Schwestern befragt und untersucht. Das medizinische Personal ist unglaublich gut hier und alle arbeiten sehr selbständig. Wenn der Patient nicht aufgenommen werden muss, schicken ihn die Schwestern mit Medikamenten wieder nach Hause.“ – „Musst du die Diagnose noch mal kontrollieren?“, will ich wissen. – „Nein, die sind zu 80 Prozent richtig.“
„Wie viele Schwestern gibt es?“
„Es sind nur 25. Stell dir vor, 25 für 180 Betten!! Davon sind etwa die Hälfte echte Schwestern. Der Rest sind CHW (Community Health Worker), die haben nur eine zweijährige Ausbildung erhalten, so wie wir sie hier in Gaubin ausbilden, und sind nicht ganz so fit. Normalerweise arbeiten sie in den kleinen Aid Posts auf den Dörfern. Dort machen sie praktisch die Basisversorgung und können Malaria und kleinere Wunden versorgen.
In der Nacht sind zwei Personen im Dienst. Das ist eigentlich unverantwortlich, da sie für alles verantwortlich sind, Geburten, Medikamente ausgeben, Neuaufnahmen anschauen, und wenn dann noch ein paar Schwerstkranke dazwischen sind, oh je, dann geht oft was schief.
Aus seiner Stimme bricht wieder viel Resignation und man kann ahnen, dass da noch viel mehr Unangenehmes darauf wartet, erzählt zu werden. Ein kontrollierter Vulkan.
„Also weiter, die Patienten bekommen von den Schwestern Medikamente und gehen wieder. Wenn es Notfälle sind, werden wir gerufen, auch wenn sie mal nicht weiter kommen mit der Diagnose. Es passiert aber auch immer wieder, dass sie viel zu spät oder gar nicht rufen. Ich habe schon so oft gepredigt, wenn es einen Notfall gibt, dann soll einer zu mir losrennen und der andere mit der Versorgung beginnen. Aber stell dir vor, manchmal kommen sie und der Patient ist tot, und wenn man nachfragt, ist er schon vor Stunden gekommen. Es ist traurig, manchmal habe ich das Gefühl, dass die einfach keine Lust haben. Stell dir mal vor, die haben keine Lust, dich zu sehen, und somit stirbt der Mensch. Es ist also immer gut, ab und zu hier vorbei zu kommen und sich die Menschen anzuschauen.“

Natürlich werde ich anfangs an der gleichen Nuss zu knacken haben, bis ich verstehe und sie ausspucke. Wie sehr unterschiedlich wir erzogen sind, wird mir ein Papua-Student zum Abschied sagen, nachdem wir drei Monate gut zusammengearbeitet haben: „Ich habe so viel gelernt von euch, aber was ich durch euch erst richtig begriffen habe, ist, dass ich für das Leben der Kranken verantwortlich bin. Das hat mir vorher keiner vorgelebt.“


Apotheke


Wir gehen weiter in einen Raum mit einer Wand voller, in kleine Päckchen geschnürter Krankenakten, einer alten Schreibmaschine und zwei Frauen, die Geld einkassieren.
Eine Tür führt in eine Kammer, die zuerst völlig chaotisch aussieht. Es türmen sich Kisten zwischen vollen Regalen mit Medikamenten. Die Apotheke! Eine Frau mit blauem Kittel und Brille steht in dem Durcheinander. Als sie uns kommen sieht, geht sie aus dem Raum, ohne ein Wort zu sagen.
Was ist bloß los hier?
„Wer war das?“, frage ich nach.
„Das war Betan, die führt hier die Apotheke seit dreißig Jahren. Sie ist nicht gut auf mich zu sprechen, weil ich ihr gerade untersagt habe, die Medikamente direkt an die Kranken auszugeben, und sie in das Kabuff hier verbannt habe. Eigentlich müsste man auch das kleine Fenster hier zunageln, damit sie nicht auch da noch Medikamente in ihre eigene Tasche raus verkauft. Alles korrupt hier. In so vielen Sitzungen habe ich das Problem angesprochen, aber es tut sich nichts.“ Ich verliere die Lust zu fragen, mir ist das alles unangenehm.

Wir gehen weiter.
Ich will rauuus Luft schnappen und meinen Kopf sortieren.
‚Auch nicht einfach für die Menschen hier, alle vier Jahre wird ihnen ein neuer Doktor vor die Nase gesetzt, der wieder alles anders macht und meint alles besser machen zu müssen…und die Pfleger hier müssen alles mitmachen. Den frischen Enthusiasmus, die mitgebrachten Ideen, das Wissen, was hier fehlt und was man braucht. Oh je...’, denke ich und zwinge mich, mich wieder zu konzentrieren.

„Wofür werden eigentlich die Krankenwagen benutzt, müsst ihr auch Notfälle aus den Dörfern holen?“ – „Nein, die müssen hier alle selber herfinden. Manchmal ist das allerdings schwierig, weil die Straße sehr schlecht ist und man zurzeit nicht einmal ganz um die Insel kommt. Die meisten von den 60 Dörfern liegen am Berg und dort gibt es nur Pisten, die in der Regenzeit unpassierbar sind. Außerdem gibt es hier kein Telefon. Autos gibt es auch wenige. Die Patienten erzählen, dass sie sogar manchmal ein paar Tage an der Straße sitzen, um ein Auto zu finden. Einmal pro Woche fahre ich zu zwei kleinen Health Centern auf der anderen Seite der Insel.
Dass die hier zwei verschiedene Sprachen sprechen, weißt du?“ Ich nicke. „Hier wird Takia gesprochen, weil der Teil der Insel von der Hauptinsel aus bevölkert wurde, also von den Melanesiern. Auf der anderen Seite wird Waskia gesprochen. Die Menschen von dort sind mit Booten von den Melanesischen Inseln herüber gekommen. Wenn du lange hier lebst, so wie Noel, kannst du es auch an den Gesichtern erkennen. Die Melanesier haben viel gröbere Gesichtszüge.“ – „Können die sich denn untereinander verstehen?“ – „Nein, die Sprachen gleichen sich in keinem Wort.“


Kreißsaal


Wir kommen in einen kleinen Vorraum mit einer einfachen Pritsche: der gynäkologische Untersuchungsraum. Durch eine saloonartige Schwingtür stehen wir im Kreißsaal.
Kreißsaal! Mein Puls rast.
Geburtshilfe ist meine Leidenschaft. Hier werde ich versuchen, richtig gut zu sein und den Frauen einen Ort geben, in dem sie sich sicher und aufgehoben fühlen.
Zwei Schwestern stehen um ein Bett herum, auf dem eine nackte Frau auf dem Rücken liegt, die offensichtlich gerade entbunden hat. Die Laken sind blutig und auf dem Boden befindet sich eine Pfütze grünen Fruchtwassers.
Ihre glänzende Haut und die tiefe Versunkenheit erzählen von der geleisteten Anstrengung. Sie ist jung, ihr schönes Gesicht ist von Tätowierungen verziert, ihr Körper muskulös und schmal. Ich betrachte den leeren Bauch und wundere mich. Ihr Bauch ist alt, faltig und voller Risse. Wie die Jahresringe eines Baumes scheint man die Anzahl der Kinder ablesen zu können.
Sie stöhnt auf, die Schwester hantiert zwischen ihren Beinen, klatscht ihr auf den Schenkel und raunt ihr etwas zu. Sie hält Nadel und Faden in der Hand und versorgt offensichtlich einen Riss. Als die Frau die Augen öffnet, sieht sie Klaus in der Tür stehen. Sie legt den Arm über ihre Augen und kneift die Beine zusammen. Die Schwester wird regelrecht ungehalten und versucht, sich fluchend zwischen die Beine zu drängen.
Eine alte Frau, die in ihrem verdreckten Hemdchen am Kopf der Frau steht, fängt in einer anderen Sprache an zu zetern, schlägt der Liegenden mit der Hand auf den Kopf, als sei sie ein unartiges kleines Kind, und ruckelt an den Beinen herum.
Ich wundere mich wieder, diesmal über die Haut der alten Frau, die vielleicht die Mutter der Beinekneiferin ist. Wer einen Luftballon von einem Kindergeburtstag vergessen hat abzuhängen, weiß, wie sich dieser, zu einem verschrumpelten Sack mutierte Ballon, anfühlt. Feine Fältchen, in zarter schlaffer Membran, ihre Haut.
Ihre Beine sind Stöckchen mit großen schuppigen Flecken, die silbrig glänzen. Sie kratzt sich an ihrer Fischhaut und schnäuzt sich anschließend in den Kragen ihres Hemdes.
Das muss ein Pilz an ihren Beinen sein, denke ich, sie sieht aus, als würde sie schimmeln wie ein Stück altes Brot. Ich weiß, dass in der tropischen Feuchtigkeit Bäume mit Moos, Flechten und Schmarotzern überwuchert sind, aber dass die Beweglichkeit des Menschen ihn nicht davor schützt, mit der Zeit ähnlich auszusehen, habe ich nicht geahnt.

Ich sehe der Schwester über die Schulter und kneife reflektorisch die Beine zusammen. Sie hält nicht nur Nadel und Faden in der Hand, das sind Werkzeuge aus der Großwildpraxis. Ein Faden, dick, schwarz, unzerreißbar, wie ich ihn von rustikalen Lederboots her als Schmucknaht kenne. Und eine Nadel, wie zum Netze knüpfen.
Ich schrecke zurück und betrachte noch einmal die liegende Frau voller Respekt und Mitgefühl.
Sie gibt keinen Ton von sich, man sieht nur ihre Backenknochen arbeiten.
Ich schüttele meine Spannung ab, den Rotz im Inneren des Hemdes der Oma, atme den Schlag auf den Kopf und das Gemecker aus und wende mich an Klaus. „Komm, lass uns gehen, der Frau ist das unangenehm.“ – „Wieso das? Wir können ja den Vorhang zuziehen.“

In einem kleinen Bettchen aus Draht rührt sich ein kleines Bündel und quiekt leise. Ich sehe das Neugeborene, stramm eingewickelt wie eine Wurst mit ganz weißer Haut! Ich kann nicht widerstehen und streichele dem Kind über die Stirn. „Wie viele Kinder werden hier geboren?“, frage ich Klaus, der eine Schachtel vom Regal zieht. – „Normalerweise so um die 600. Die meisten Frauen bekommen auf dem Dorf ihre Kinder.“


OP


Ich stecke den Kopf rein. Alles sieht liebevoll gepflegt aus, man kann sagen, den Umständen entsprechend astrein. Weiße Kacheln, grüne Päckchen, ein alter OP-Tisch und eine Monster-Lampe oben drüber. An der Seite ein Waschbecken ohne die so vertrauten Sterilium-Flaschen an der Wand. „Sieht schön aus, hier macht es bestimmt Spaß zu arbeiten“, entfährt es mir. „Wo zieht man sich denn um, und wo kommen die Patienten rein?“
Klaus lacht: „Du denkst an Schleusen und so? Vergiss es, du musst durch den Operationssaal durch, dahinten ist eine kleine Kammer mit Fäden und Kitteln. Die Patienten kommen hier rechts durch die Flügeltür, die direkt in den Gang führt. Also, mit der Liege von draußen, durch den ganzen Gang und – mit Hühnerkacke, Rotz und Buai – direkt in den OP.“
Ich muss lachen: „Cool!“
„Cool!?“, entgegnet er tadelnd.
Ich lache gekünstelt und würde mir am liebsten auf die Zunge beißen. Ich fühle mich unwohl und so sollte ich es lassen, Kommentare zu geben. Nur Schafe blöken dämlicher.

Logischerweise frage ich Klaus: „Wie sieht es denn mit Allergien aus. Hier im Urwald muss die Urwaldtheorie doch prima funktionieren.“
Die Urwaldtheorie besagt, wenn die Abwehrzellen, die z.B. für Parasiten zuständig sind, die Gelegenheit haben, sich mit Erregern und Würmern auseinanderzusetzen, sie quasi beschäftigt sind und daher keine Allergien entstehen. Abwehrzellen, die dazu nicht die Möglichkeit haben, greifen dann irgendetwas anderes, wie z.B. Pollen, an. Das ist wie ein Briefträger, der jeden Morgen in der Zentrale eine leere Tasche umgehängt bekommt, weil kein Mensch mehr schreibt, und aus Frust anfängt, Gras oder Stinkbomben in die Briefkästen zu legen.
„Ich weiß nicht, was die Urwaldtheorie besagt, aber Allergien gibt es hier so gut wie keine.“

Wir haben inzwischen den OP verlassen und gehen auf einem glatten, langen Betonbodengang, der mit einem Blechdach vor den Regenschauern geschützt ist, an zwei Baracken, die rechts und links vom Gang abgehen, vorbei. Ein Huhn rennt vor uns weg, eine Frau hängt Stoffwindeln an eine alte Wäschespinne, die zwischen den Stationen steht.

Die nächste Baracke ist die Kinderstation. Ich bin so gespannt, wie es in den langen, weißgetünchten Häusern aussehen wird, aber ich bin wie ein Roboter, habe auf Autopilot umgeschaltet und mein Inneres auf Urlaub geschickt, zum Luftholen...


Kinderstation


Wenn ich die Augen schließe und an ‚Kinderstation’ in Deutschland denke, sehe ich Buntes: viele wackelnde Mobiles, Tierbilder an den Türen, ein Spielzimmer mit Fernseher, Kinderpflaster, eine Dose mit Trösterchen und einen Clown, der die Kinder durch Lachen heilen kann.
Wir gehen durch die blaue Flügeltür und stehen in einem weißen Raum mit einem Mittelgang, gesäumt von je zwölf niedrigen Eisenbetten auf jeder Seite. Es gibt keine Matratzen, nur ein Brett als Liegefläche. Keine Nachttischchen oder Lampen. Die rot gefleckten Wände enden in einer durchgehenden Reihe von Fenstern ohne Glas. An der Decke zwei nackte Neonröhren. Nichts erinnert an eine Kinderstation, außer den Kindern in ihren Betten.
Die Station ist halb voll.
Ich stoppe meine IchgreifmireinenFarbtopf-Gedanken und frage nach, warum an fast jedem Bett vier Stöcke an den Ecken befestigt sind. Vielleicht für Infusionen? „Die sind für die Moskitonetze, die in der Nacht darüber gelegt werden. Die Fenster hier sind mit Absicht nicht vergittert, damit sich die Menschen angewöhnen, unter Netzen zu schlafen, um es dann auch im Dorf zu tun. Der Erfolg ist allerdings mäßig, ganz einfach, weil es den meisten zu heiß und stickig unter dem Netz ist“, erklärt Klaus.
„Wie schlimm ist denn Malaria? Hattet ihr es schon oft?“
„Wenn du hier lebst, gehört das dazu, wie du in Deutschland eine Erkältung im Herbst bekommst. Wer rechtzeitig in die Klinik kommt, stirbt nicht an Malaria. Die Menschen haben eine Teilimmunität, weil sie praktisch ständig gestochen werden und Erreger in sich haben. Richtig heftig ist es für Kinder und Schwangere, da die Erreger durch die Plazenta das Baby anstecken und Früh- oder Totgeburten auslösen. Bei den Kindern ist die cerebrale (das Gehirn mit betreffende) Malaria gefährlich. Ich zeige dir ein Kind, das gestern gekommen ist. Was nehmt ihr eigentlich als Prophylaxe?“
„Uns wurde vom Hamburger Tropeninstitut Lariam ans Herz gelegt.“
„Was? Sag bloß, ihr nehmt das Teufelszeug auch noch!“
Ich komme mir, jetzt fast in regelmäßigen Abständen, etwas dämlich vor. „Na ja, sie meinten, während der Eingewöhnungszeit wäre es gut, ein sicheres Mittel zu nehmen.“ Klaus schnaubt: „Das die noch immer so einen Scheiß empfehlen. Ich fasse es nicht. Du glaubst gar nicht, wie viele Leute ich das Land habe verlassen sehen, weil sie wegen dieses Zeugs psychisch auffällig oder depressiv wurden, ja sogar suizidgefährdet. Manche sitzen da und reden nur noch völligen Schwachsinn. Echt, lasst die Finger davon! Eigentlich brauchst du gar nichts zu nehmen. In der Regenzeit, und nur weil wir hier im Sumpf leben, nehme ich Chloroquin. Simone und die Kinder nehmen gar nichts. Die anderen Mittel, wie Artesunate, sind so Klasse, dass du bei einem Malariaschub am nächsten Tag wieder topfit bist. Wieso hast du dir keine anderen Informationen geholt oder uns gefragt?“ Er wendet sich ab, wartet gar nicht auf eine Antwort und läuft kopfschüttelnd den Gang entlang, ohne nach links oder rechts zu schauen.

Natürlich haben wir die folgenden vier Jahre keine Prophylaxe mehr genommen und klar würde ich in meinem Leben nie wieder Lariam nehmen oder anderen empfehlen, vor allem, nachdem ich von drei Fällen weiß, die wegen der fälschlichen Botschaft ‚Lariam ist sicher’ ihre Malaria verschleppten und ernsthaft erkrankten. Kein Mittel ist sicher und bei allen gibt es schon Resistenzen.
Aber in diesem Augenblick frage ich mich, ab wie viel Dummheit man im Boden versinkt oder einem das Jugendamt die Kinder wegnimmt, Begründung: ‚Mutter treibt ihre eigenen Kinder in den Wahnsinn’ und zwischen den Zeilen ‚und das als Ärztin’.

Die vielen Kinderaugen, die mich anschauen, holen mich zurück in die weißgetünchte Realität der Station. Ich setze ein Lächeln auf und schleiche hinter Klaus her.
Er bleibt vor einem etwa dreijährigen Kind stehen, das auf dem Bett sitzt und aus einer Blechschüssel isst. Ich schiele in die Schüssel, es sieht aus wie Kochbananen mit etwas grünen Blättern und einer milchigen Soße. Bestimmt Kokosnuss.
Unser Stehenbleiben bewirkt, dass das Essen dem Kind buchstäblich aus dem Gesicht fällt, der Löffel in die Schüssel knallt und das Kind schreiend hinter der auf dem Boden sitzenden Mutter verschwindet. Die lacht und ruft: „Yu longlong, bai mi paitim yu. (Du bist verrückt, ich hau dich gleich.)“
Aber sie schlägt das Kind nicht, sondern nimmt es mit einer unglaublichen Zärtlichkeit in den Arm und drückt es an sich. Im gleichen Moment nehme ich die Mutter im Bett neben dran wahr, die auf dem Rücken liegt und ihr kleines, nacktes Baby stillt. Ihre Finger gleiten den kleinen Rücken hinunter, dann nimmt sie es hoch, immer wieder, um ihm dann den Bauch zu pusten. Die langen Spuckefäden aus dem vom lautlosen Lachen weit aufgerissenen Mund des Kleinen tropfen auf sie. Es ist ein so inniger Moment zwischen den beiden, dass mir sentimentalen Kuh die Tränen kommen.

„Das Kind kam gestern im tiefsten Koma, wirklich, null Reaktion mehr, gekrampft hat es auch mehrmals. Wir haben dann Quinin (Antimalariamittel) in den Oberschenkelmuskel gespritzt“, beginnt Klaus, „und heute sitzt es hier und isst, wow!“ – „Cerebrale Malaria macht also keine dauerhaften Hirnschäden?“, frage ich.
„Nein, im Gegensatz zu den Gehirnhautentzündungen. Das Mädchen hier auf der anderen Seite liegt schon einen Monat im Wachkoma. Es wurde mit Meningitis (Gehirnhautentzündung) hergebracht. Aber wie es hier so ist, kam sie viel zu spät. Es lag da wie ein Flitzebogen.“ Ich trete an das Bett. Irgendetwas fehlt, aber ich komme nicht drauf. Das Mädchen liegt ganz still da, nur ab und zu macht es ein schmatzendes Geräusch. Es hat ganz glatte lange Haare und Wimpern, so etwas habe ich noch nie gesehen, wie Pinsel. Als ich ihr über die Wange streichele, fängt es an mit den Zähnen zu knirschen, die Spucke am Mund schlägt Blasen.
Jetzt fällt mir auf, was fehlt.
„Ist das Kind ganz alleine, Klaus?“
„Ja, die Familie hat es aufgegeben. Gestern habe ich noch ein Mädchen am Bett sitzen sehen. Es war vielleicht sechs Jahre alt. Einfach abgestellt, ohne Essensvorräte. Na und heute ist es auch verschwunden. Wird nicht mehr lange leben, die Kleine. Behinderte Menschen haben hier eine kurze Lebenserwartung.“
Er redet unberührt, aber das muss wohl so sein.
Mein Blick fällt auf die Hände des Wimpernmädchens. Die Haut der Handinnenflächen ist hellrosa, vernarbt, zwei Finger sind mit der Handfläche verwachsen. „Woher hat das Kind die Brandverletzung an den Händen?“, frage ich. Klaus lacht höhnisch: „Ja, da siehst du eine echte Unart von hier. Die Menschen, vor allem die alten Frauen, denken, dass sie die Kinder, die krampfen oder im Koma liegen, so wieder aufwecken können.“
„Was!“, entfährt es mir. „Das ist ja grausam.“ Ich kann es mir nicht vorstellen, wie die Oma oder Mama ein glühendes Stück Holz an die Hände des eigenen Kindes halten können. Vielleicht denken sie wirklich, sie retten so das Kind?
Ich lenke mich ab und sehe mir die anderen kleinen Patienten an. „Die Kinder sehen eigentlich alle gut genährt aus!“, wundere ich mich laut. “Was dachtest du, dass du hier in Afrika bist? Hier gibt es keinen Hunger. Die Menschen haben alle ihre Gärten und ein vorzügliches Sozialsystem. PNG ist ein reiches Land und von allen tropischen Ländern auch das gesündeste.“ Ich stolpere wieder über ‚reich’, sage aber nichts.

„Hier ist das Kind, das ich mir eigentlich anschauen wollte.“
Am letzten Bett vor einem Schreibtisch und einer Kammer mit Medikamenten und Akten sitzt eine junge Frau, vor ihr liegt ein in Tücher gewickelt Baby, das vor sich hin schnaubt wie eine kleine Dampfmaschine. Viel zu schnell, mechanisch, bei jedem Atemzug zieht sich die Haut an den Schlüsselbeinen und zwischen den Rippen zurück.
Eine Krankenschwester kommt aus dem kleinen Nebenraum und übergibt Klaus wortlos die Papiere. Klaus schaut sie an und fragt etwas, was ich nicht verstehe. Die Schwester lächelt verlegen. Als sie antwortet, schiebt sie einen roten Brei von einer Backe in die andere. Von ihren Zähnen ist kein Fitzelchen Weiß mehr übrig, dicker schwarzroter Belag bezeugen die Masse an Buai (Betelnuss), die schon gekaut wurde. Sie zieht die Schultern ein, wie ein ertapptes Mädchen, und geht nach draußen. „Diese Buai-Kauerei ist ekelhaft. Schau dich nur um, wie das hier aussieht. Egal, ob es verboten ist oder nicht, sie kauen. Fünf Kina sollte ich ihr abknöpfen.“ Klaus brodelt vor sich hin, ohne jemanden anzusehen.
Die Schwester kommt zurück und verzieht sich in die Kammer.

Er beginnt das Kind zu untersuchen und sagt etwas zu der Mutter, die daraufhin eine Schüssel mit Wasser aus einer alten Colaflasche füllt und anfängt, das Kind abzuwaschen.
Es nervt mich, dass ich nichts verstehe. Klaus erklärt, während er schreibt: „Der Kleine hat eine schwere Lungenentzündung und sehr hohes Fieber. Anstatt Wadenwickel zu legen werden die Kinder hier gewaschen. Ich schau mal, ob wir noch Sauerstoff haben, ich glaube, das würde dem gut tun. Du kannst ja so lange mal die Lunge abhorchen.“ Ich tauche in die Stille des Stethoskops und versuche neben dem ohrnahen Schreien ein Geräusch zu hören.

Die Schwester kommt ans Bett, fragt mich, ob ich die neue Ärztin bin. Sie sieht nett aus, gut genährt, selbstbewusst, hat eine Blume auf die Backe tätowiert. Ich nicke. Sie freut sich und sagt: „Very nice.“ Die anderen Frauen auf den Betten drehen sich plötzlich alle zu mir um und lachen mich an. Es ist echte Freude. Ihre Augen tragen etwas an mich heran, was ich nicht erwartet habe. Wie soll ich es beschreiben ohne kitschig zu werden? Es ist so etwas wie Solidarität: ‚Du bist für uns und unsere Kinder da, aber wir lassen dich auch nicht aus den Augen. Wenn du mein Kind streichelst und versorgst, verjage ich die Schlange, die dein Kind beißen will.’
Es schwingt ein Vertrauensvorschuss und eine Hoffnung in der Luft, aber auch ein Blitzen, das Humor verspricht.
Wie viel hier auch auf mich einprasseln mag, was meine Selbstzweifel nährt: dieser kleine Augenblick macht mich sicher, dass ich hier irgendwann zu Hause sein werde.

Klaus kommt wieder herein gerauscht, wütend vor sich her nuschelnd: „Gesten gingen die Boote nach Madang, da habe ich noch gefragt: ‚Brauchen wir noch was, gibt es noch Sauerstoff?’ Die Antwort war: ‚Nein.’ Und wie kann es anders sein, ich drehe die Flasche auf und es macht nur einmal pffffft und leer. Die machen mich hier krank. So, ich zeige dir noch schnell den Rest und dann noch das Büro.“

Meine Aufnahmekapazität ist erschöpft. Die Eindrücke sind viele gewesen, jetzt sehe ich mir alles an, die Menschen, meinen neuen Kollegen Denny, wie er am Bett steht und mich kurz grüßt, noch eine Station und noch mehr Menschen, aber ich nehme es nicht mehr auf, bin wie in Watte. Klopft nicht immer wieder leise die Frage an? ‚Wie willst du das hier eigentlich schaffen?’ Aber ich mache mir Mut.
Noch habe ich Welpenschutz, ich wachse da schon rein. – Doch ich will raus, raus, raus, mein Kopf platzt gleich und ich brauche viel Luft...



Arztzimmer und Fortsetzung des ‚Zähneziehens’


Als allerdings die Tür zum Büro zugeht, bin ich wieder hellwach und ahne instinktiv, dass jetzt etwas kommt, was die ganze Zeit schon in Klaus rumort hat. Das Office ist klein, eine Pritsche, ein antikes Ultraschallgerät, ein Schreibtisch, eine Lesetafel und ein Foto von einer Schlange. Er holt Luft: „So, und jetzt erzähle mal, wie du dir vorstellst, hier als halbe Ärztin zu arbeiten!“
Rums, die Bombe ist geplatzt.
Ich überlege kurz, ob ich mich jetzt verteidigen sollte. Vielleicht eine Gegenfrage?
„Wieso, wann fällt denn die meiste Arbeit hier an?“
Es stürmt zurück:
„Darum geht es doch gar nicht. Natürlich sind wir hier hauptsächlich morgens am Arbeiten und Operieren, das wirst du schon gut hinkriegen. Aber was machst du, wenn du hier mit Denny arbeitest und dann ist er plötzlich vier Wochen weg, weil sein Onkel fünften Grades gestorben ist oder er ein Hevi (Problem) im Dorf hat? Oder was machst du, wenn er gar nicht mehr wieder kommt? Denny wird hier nicht lange bleiben und ich wüsste keinen, der ihn ersetzen könnte.
Tja Silke, dann bist du hier alleine mit deiner Halbtagsstelle. Dann arbeitest du voll bei halbem Gehalt und Frank kann den Hausmann spielen. Es ist eine Katastrophe. Du bist nicht meine Nachfolgerin, sondern ein extra Bonbon. Dann wären also ohne Denny noch zwei volle Arztstellen hier zu besetzen. Für dieses Krankenhaus braucht man drei Ärzte, aber seit Jahren wurschteln die Ärzte mehr oder weniger alleine herum und lassen sich ausbeuten. Sag mir, wie viele Ärzte wart ihr auf der Gynäkologie?“
„Wir hatten bei knapp vierzig Betten einen Chefarzt, zwei Oberärzte und, Moment, eins, zwei, dreieinhalbe Assistenzärzte und mich als AiP.“
„Ja und hier versorgt ein Arzt 180 Patienten. Unverantwortlich und nur eine Frage der Zeit, bis etwas passiert. Es ist auch absolut schwachsinnig, dass man hier den Helden spielt und über lange Zeit alleine den Laden schmeißt. Da reibt sich jeder hier die Hände und lacht sich über uns dumme Deutsche ins Fäustchen. Für Aufopferung gibt es hier keinen Orden, nur Hohn hinter vorgehaltener Hand. Mit so einer Einstellung wird sich hier nie etwas ändern, denn jeder wird sich auf diese Ärzte berufen und sagen ‚Na schau, die haben es doch auch geschafft.’ Absolut kontraproduktiv. Und jetzt kommst du mit einer halben Stelle! Dich hätten sie gar nicht einstellen dürfen.“
Die Sätze sausen mir nur so um die Ohren. Ich spüre, dass er Recht hat, dass er in vielen Dingen im Grunde Recht hat, aber seine Bitterkeit ruft Trotz in mir hervor: ‚Du wirst schon sehen, dass wir das hier schaukeln werden. Jetzt weiß ich auch, was Frank gemeint hat, als er sagte, es gäbe Schwierigkeiten’, denke ich und die Vorstellung, hier alleine zu sitzen, lässt mich fast in die Hose machen.
Ich mache die Schotten dicht und schaue durch die kaputten Glasscheiben, die hier horizontal angelegt sind, nach draußen. Schnell verschwinden ein paar dunkle Augen aus der unteren Ecke und jemand kichert.
Ich will nicht hören, warum Ron ein ‚Piep’ ist und man den LHS in der Pfeife rauchen kann. Ich will den Weg mit Klaus zusammen nicht weitergehen. Ich will zu meinen Kindern.