Mithilfe des Ritus kreieren sie eine außergewöhnlichen Rahmen, bei dem die Teilnehmer oder Besucher für die Dauer des Rituals an einer Anderswelt partizipieren. Umgekehrt führen sie dann dies wiederum als Beleg für die Existenz des Anderen heran. Ein Ritus ist wiederholbar, wird kulturell verankert, gibt Verläßlichkeit, soziale Einbindung und gestaltet den Lebens- oder den Jahresablauf.
Religion an sich ist vielleicht die gemeinsame, kulturelle Vorstellung dieses Anderen. Es ist nicht an sich greifbar, sondern Vorstellung, Emotion und Glaube. Religion postuliert andere als die alltäglich erfahrbaren Wahrnehmungen, andere Zusammenhänge und Bedingungen: eben den Glauben. Dieser wird kulturell kanalisiert und kodifiziert, wird mit der Zeit zum Überbau und eventuell zum Machtfaktor. Im gleichen Kontext gibt Religion auch Erklärungen für die individuellen und gesellschaftlichen Tragödien des Lebens wie das Sterben und das seelische Leiden. Sie antwortet auf Fragen der Existenz, d.h. des „Wohin und Woher“, was war vor der Geburt und was kommt nach dem Sterben, was war vor dieser Welt und was folgt danach. Religion begleitet erklärend und sinnstiftend an den kritischen Übergängen von Pubertät und Reifung, Heiraten, Reproduktion, Alter und Tod oder bei individuellen Krisen wie Verlust, Versagen und Schuld.
Das Kleid der Religion sind die Rituale. Sie sind gesellschaftliche und kulturelle Formen der In-Beziehung-Setzung bzw. Hinwendung zum Göttlichen und der Bewältigung der kritischen Übergänge. Meist sind spezielle Ritualmeister für die Inszenierung des Rituals zuständig - deren Exklusivität ergibt sich aus der Besonderheit (Heiligkeit, Berufung, Auserwähltheit), nicht aus der Alltäglichkeit. Ritualmeister wie Schamaninnen, Priester, Magier, Heilerinnen, Wahrsager, Initiationsleiterinnen, Musiker oder Rezitatoren sind hierzu besonders autorisierte, ermächtigte Personen, die das Ritual vorexerzieren, führen, beginnen, beenden und die Deutungen transportieren sowie kanalisieren.
Mit religiösen Ritualen verankert sich eine Gemeinschaft in der Unermeßlichkeit ihrer Anderswelt, des heiligen Kosmos, des Unfaßbaren. Das religiöse Ritual ist ein kulturelles, standardisiertes Werkzeug, das die Verbindung zur Anderswelt sichtbar und erlebbar macht; seine Stärke ist die kollektive Vorstellung und Interpretation sowie seine generationenübergreifende Dauerhaftigkeit.
Jede religiös-rituelle Handlung ist durch einen Beginn, eine Mittelphase und ein Ende gekennzeichnet. Auf ihrem Höhepunkt führt sie zur ‚Vereinigung’ mit dem Göttlichen, so im Christentum bei der Wandlung und Kommunion (Gemeinschaft mit Gott) oder in der Trance mit der Anwesenheit von Ahnen und Göttern - in einem anderen Kulturkreis eventuell mit dem Kontakt zu Erdkräften und Tieren, durch externe Seelenfahrten, mythische Träume oder Visionen. Das Ritual setzt den kulturellen Rahmen und ist Ausdruck des kollektiv vorgestellten, außergewöhnlichen Zeit-Raums oder besonderen Übergangs; es läßt durch seine konkrete Ausformung symbolisch und emotional an der sakralen Sphäre teilhaben oder geleitet von einem Status in den anderen.