Erschienen: 10.11.2012
© Schwäbisches Tagblatt
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung
Original-Artikel als pdf-Download
Wanderin zwischen Welten
Seit einem Forschungsaufenthalt kommt Christine Schreiber nicht mehr von Sumatra los
Ihr Verlagsprogramm umfasst zwei Bücher, weitere Veröffentlichungen sind vorerst nicht geplant. Christine Schreiber ist vermutlich nicht die einzige Kleinverlegerin im Kreis, doch sicherlich die mit dem geokulturell am weitesten gesteckten Horizont.
ULRICH EISELE
Tübingen. Das Objekt ihres Interesses liegt rund 11.000 Kilometer weit von Tübingen entfernt. Die Insel Sumatra gehört zu Indonesien, ist die sechstgrößte der Welt. Christine Schreiber bereiste sie erstmals 1982 als Rucksacktouristin. „Ich komme aus einer sehr schwierigen Familie", erzählt sie. Den Vater mit 13 Jahren verloren, die Mutter herzkrank, „ich fühlte mich ständig überfordert, musste raus". 13 Monate jobbte sie als Pflegehelferin in der Psychiatrie, dann kaufte sie ein One-way Ticket nach Singapur.
Warum Indonesien? „Weil man es damals auch als Frau alleine bereisen konnte." Die Sprache sei nicht so schwer zu erlernen wie die der umliegenden Länder, erzählt die Ethnologin. Tagelang wanderte sie zu Fuß durch Nias, übernachtete in Orten, die sonst keine Touristen sehen, war überwältigt von der Gastfreundschaft. Im Hochland von Sumatra fand sie das Gebiet ihres Herzens, Sidihoni, eine Region auf einer vulkanischen Halbinsel, seit den 1970er Jahren bevorzugtes Ziel von Rucksacktouristen. In einem der Batak-Dörfer - die Batak sind eine überwiegend christianisierte Volksgruppe, die viele alte Bräuche pflegt - traf sie den „Vater der Familie, in die ich später reinadoptiert wurde". Ein Lehrer und Kaffeehändler, der für Fremde offen war, manche ins Hinterland mitnahm. Auch Christine Schreiber. Dort lernte sie eine Kultur kennen, die sie gewissermaßen von einigen ihrer Kindheits-Traumata befreite. „Die Batak lachen viel. Sie kugeln sich regelrecht, liegen stundenlang auf dem Boden herum, Kinder immer dabei. Sie lieben es, Feste zu feiern und Geschenke auszutauschen."
Und pflegen eine ganz andere Art des Umgangs mit dem Tod: Sie streicheln die Verstorbenen, erhoffen sich von einer Berührung, dass ein Teil ihrer Kraft und Weisheit auf sie übergeht, und bestatten die Knochen ein zweites Mal festlich. Für sie, deren Vater „in einer Kapelle, allein draußen im Wald aufgebahrt wurde", eine eindrückliche Erfahrung des Eingebundenseins in den Kreislauf des Lebens. Christine Schreiber ging zurück an die Tübinger Uni, studierte Ethnologie und schloss ihr Studium mit einem einjährigen Forschungsaufenthalt im Dorf ihres Gastgebers ab. Sie lebte in dessen Haus, studierte die alten Regeln, Gebräuche und Weltanschauungen der Dorfgemeinschaft. Am Ende wurde sie in einer offiziellen Zeremonie „adoptiert" - kein offizieller Status, aber einer, der ihr bei den Verwandten ein lebenslanges Aufenthaltsrecht sichert.
"Ich fühlte mich ständig überfordert, musste raus, frische Luft schnappen."
Seither ist viel Zeit vergangen. Christine Schreiber hat eine Zweitausbildung zur Fachkraft für internationale Wirtschaft gemacht, weil sie von der Ethnologie allein nicht leben konnte. Sie heiratete eine Frau und gründete einen Verlag, in dem ihre Forschungsarbeit erschienen ist und ein weiteres Buch von einer Ärztin, die vier Jahre lang auf Papua-Neuguinea praktizierte. Sie richtete eine Website ein (www.sidihoni.com), die sich zur wichtigen Informationsquelle für Kulturwanderer - Ärzte, Geschäftsleute, interkulturell Verheiratete - entwickelt, und unterstützte Tsunami-Opfer. In all diesen Jahren ließ Christine Schreiber den Kontakt zu ihrer Adoptivfamilie nie abreißen. Sie stellte der Zweitmutter - der Vater starb vor einigen Jahren - ihre Lebenspartnerin vor und feierte mit ihrem ganzen Clan ein traditionelles Hochzeitsfest. Offiziell deklarierten wir es als ,Ehrenfest für die Clan-Ältesten', weil einige unsere Verbindung missbilligten", erzählt sie. Mutter und jüngere Verwandte fanden es jedoch in Ordnung, dass sie mit einer Frau zusammenlebe. Überhaupt gleicht sich vieles an. Internet ist fast in jeder Batak-Hütte, Nachrichten fliegen oft schneller um den Erdball, als Christine Schreiber lieb ist. Zum Beispiel die von ihrer Heirat mit einer Frau. Die Globalisierung wird auch die Ethnologie verändern, meint die Kleinverlegerin, weil zum Beispiel Batak-Wissenschaftler ihre Kultur selbst an europäischen Unis vermitteln werden.
Bilder-Untertext:
Über der Schulter trägt Kleinverlegerin Christine Schreiber aus Seebronn eines der traditionellen Bataktücher, die sie zu ihrer Hochzeit geschenkt bekam.
Bildquelle: Metz Schwäbisches Tagblatt