[ Über das Arbeiten im Altenheim]
Ich will rauskommen, über die Punkte hinauskommen, die mich behindern, beschränken, wo ich blind bin und roh, wo es mir einfach an etwas fehlt.
Wozu sonst habe ich dieses Leben bekommen?
Wozu sonst hat oft genug jemand unter meinem Defizit gelitten oder habe ich verletzt?
Wozu sonst habe ich tausend neue Chancen bekommen um dazuzulernen?
Mangel überwinden.
Als Kind war ich so gestört, dass ich lachend daneben stand, wenn ein anderes Kind sich verletzte. Ich empfand kein Mitgefühl, nur Irritation und lachte, weil es komisch war und zugleich merkte ich, dass mein Verhalten nicht passt, dass ich gestört bin, dass mir etwas Grundlegendes fehlt, aber ich konnte es nicht besser.
Als Kind habe ich passiv meiner eigenen Unmenschlichkeit zugesehen und gemerkt, dass die nicht richtig ist und sie mir einen Weg zur Freundschaft versperrt, doch ich war hilflos im Nebendranstehen und fand es peinlich, wie verbogen und reduziert ich bereits bin.
Die Demütigungen und die Gewalt derer, die ich liebte und von denen ich abhängig war, haben mich so verquert. Und das als bereits 4 –Jährige. Sie haben mir das Mitfühlen genommen, das Selbstverständlichste, was ein menschliches Wesen kann: mit empfinden, helfen, trösten – weil wir Gemeinschaftswesen sind, Sozialwesen.
Wie wenn in einigen Staaten heutzutage Kindersoldaten herangezogen werden, so habt ihr mir die Verbindung zum Mitmenschen abgetrennt, mich vereinzelt, mich zu einem Krüppel gemacht bezüglich des Mitgefühls.
Nun bin ich 57 Jahre alt, hatte Erfolg und viele Jobs in meinem Leben, bin rumgekommen, was den Erdball und die Kulturen betrifft, habe Selbständigkeit beruflich und finanziell aufgebaut, berichte vom Leben und der Menschenliebe in Sumatra, verlege von der Liebe zu Menschen in Extremsituationen in Papua, bin damit „Geburtshelferin“ für Herz und Hirn und Hände engagierter Menschen –
ja, nun, jetzt arbeite ich mit meinen eigenen Händen. Am anderen Menschen.
Und das ist ein wahrer Schritt – in diesem meinem Leben.
Ich darf fühlend und tastend lernen was ich versäumte als Kind.
Mit dem Herzen habe ich schon lieben gelernt – in den anderen Kulturen, auf den Matten voller Flöhe in den Hütten der Armen, der Batak, der Niasaner, der Thai und Malayen, habe deren Deftigkeit und Direktheit, deren Scheu, Humor und Leid erfahren dürfen… aber mit meinen Händen???
„Schau ihnen ins Gesicht, wenn du sie wäscht“, sagt mein Kollege im Altenpflegeheim.
Wie gut. Da ist die Brücke: im Tun der Hände am Leib, im Ansehen, im begleitenden Wort, in der Zeit und Ruhe, die geklaut wird [ im hektischen Alltag und den unpassenden Anforderungen].
Die ungelernte, niedrigbezahlteste Arbeit, äußerlich im Rahmen des Drucks, der Hektik, des permanenten „dafür haben wir keine Zeit“, diese Arbeit birgt ein Miteinander beim Abhilfe verschaffen vom nassen Urin, beim Abhilfe verschaffen vom stinkenden Kot, beim wunde Stellen Bestreichen, beim Beruhigen und Geduld zusprechen, bis der Leib entspannt, der Atem tiefer geht und die Augen sich treffen…
Erfrischung im Gesicht - mitten in diesem gesellschaftlich absolut degradierten und hektischen Rahmen gibt es das Erreichen, das Da-Sein und ein Los-Lassen für eine halbe Stunde, ein zeitliches Miteinander, ein Lachen beim Rasieren, ein Dankeschön aus einem zahnlosen Mund, ausgesprochen in peinlich privaten Momenten angesichts einer eingestuhlten Hose oder eines unbedeckten Genitals….
… UND ES IST EHRLICH !!!
Dieser Job hat eine Größe und manche KollegIn weiß darum. Zu Euch gehöre ich.
Danke für die Chance, im Alter von 57 Jahren, nach flüchtigem Erfolg und intellektueller Höhe, nach politischer Aktivität und öffentlicher Anerkennung – und ja doch als Mangelwesen – lernen und anwenden zu dürfen, was mich „vollkommen“ macht, was mich heilt oder ganz macht, was eine Brücke schlägt zum Defizit und drüber hinweg, zum Mensch-Sein!
Selbstmitleid hat vereinsamt, Scham vor dem Defizit auch. Die Angst, als Verbogene erkannt zu werden. Elterliche Miss-Handlung, Demütigungen und Leibesquälereien hatten ihre gehörige Wirkung, aber wir Menschen dürfen fühlen, suchen und geistig verstehen, was unsere Aufgabe an uns selber ist: sich verändern und Brücken wachsen lassen.
„Dein Glas ist noch nicht voll“, sagt der Kollege, der mir indirekt viel Mut zusprach zu diesem Job; dem Job, der mir so ferne lag, vor dem ich mich so fürchtete.
„Was meinst Du damit?“, frage ich.
„Es hat noch Platz darin. Ein paar Tropfen passen noch rein. Du kannst noch dazulernen, Christine“, sagt der Kollege lächelnd.
Was freut sich mein Herz.
Hier geht es nicht darum, ob ich Professorin bin oder was sonst ich alles vollbracht habe, der Kollege stellt das nicht zwischen uns.
Er hat erkannt, warum ich mich jetzt und heute in dieser meiner Lebensentwicklung bemühe. Jemand, der durch die Hüllen und gesellschaftlichen Mäntel hindurchsieht, im Jetzt, zum Wesentlichen.
„Schönen Urlaub Kollege“, wünsche ich ihm.
Er geht in sein geschundenes Land.
Er hat Krieg erlebt.
Ich habe Krieg erlebt.
Er in seinem Land, an tausenden von Menschen.
Ich zuhause. Hinter verschlossenen Fenstern.
Hier in diesem Altenheim ist es wie in einer Art Familie. Wir geben was wir können, die kleinen Dinge, denn „sie haben ihr Leben gelebt“. Es reicht. Es ist gut so.
Es ist Frieden – hier im Altenpflegeheim.
Und oftmals auch in unseren Herzen.
Deshalb bin ich da, hier im Pflegeheim.
Danke Euch.
P. S: Wir dürfen heilen, bevor wir sterben, sofern wir streben, drüber HINAUS zu kommen …
<cs, Juli/August 2017>